Biographie

1942
um 1942

Am 16. September 1920 wurde Karl Ottomar Reichelt in Dresden geboren. Da sein Vater Verwaltungsjurist war und immer wieder versetzt wurde, verbrachte der Heranwachsende seine Kindheit und Jugend in verschiedenen Städten Sachsens: in Freiberg, Stollberg und Meißen, wo er im Frühjahr 1938 sein Abitur machte. Noch im selben Jahr wurde er zum Arbeitsdienst eingezogen und gleich danach zur Wehrmacht. Nach der Teilnahme am Einmarsch in Polen hatte er das Glück, 1940 zum Medizinstudium nach Leipzig abkommandiert zu werden; später, nach einem praktischen Jahr in der Röntgenabteilung des Kriegslazaretts in Löwen (Leuven), konnte er in einer Studentenkompanie der Wehrmacht in Halle sein Studium fortsetzen. 1943 heiratete er Rosemarie Kruse, Studentin der Medi­zin; zwei Kinder wurden geboren. 1945 schloss er sein Studium mit dem Staatsexamen und der Promotion ab; kurz darauf geriet er erst in amerikanische, dann in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er noch im selben Jahr entlassen wurde.

Als Assistenzarzt in Halle, Blankenburg, Merseburg und wieder in Halle erlangte er 1951 die Anerkennung als Internist und 1956 die als Facharzt für Röntgenologie und Strahlenheilkunde.

In Merseburg trat neben die Berufsarbeit als Mediziner etwas entscheidend Neues: die bildende Kunst, die Malerei. Hier entdeckte er, in dessen Leben die Kunst bisher keine große Rolle gespielt hatte und der von den ästhetischen Urteilen eines kunstfernen Elternhauses und der NS-Zeit geprägt war, zum ersten Mal Reproduktionen der Klassischen Moderne und war ergriffen davon. Die Faszination währte ein ganzes Leben: das vitale Bedürfnis, Bilder zu sehen, über Kunstfragen nachzudenken, zu lesen und sich kunsttheoretisch zu bilden; vor allem aber der Drang, eigene Erfahrungen beim Zeichnen und Malen zu machen, immer wieder anzufangen, zu scheitern und neu zu beginnen. Malen als Weg, als Prozeß, als Sprache.

Bachmann
Herrmann und Gisela Bachmann 1962

Er wurde Gastschüler der Kunstschule Burg Giebichenstein in Halle und beschäftigte sich bei Professor Gustav Weidanz mit Aktzeichnen. In Merseburg und Halle begegnet er drei Persönlichkeiten, die ihn nachhaltig prägen: Georg Paul, der älteste von ihnen, hatte die zwanziger Jahre in Berlin als freischaffender Maler in engem Kontakt zur Avantgarde der Zeit verbracht und konnte authentisch vermitteln, anregen, ermutigen, kritisieren. Es entstand eine enge Freundschaft zu dem älteren Mentor, und unter seinem Zuspruch stürzte sich Reichelt mit besessener Entschlossenheit in das Abenteuer des eigenen Bildermachens. Das große Vorbild war Picasso, dem die kleine Gruppe um Paul einen Verehrungsbrief schrieb.

1949 beteiligte er sich erstmals an einer Ausstellung in Merseburg, deren Resonanz durchweg negativ war. Aber sie bescherte ihm die lebenslange Freundschaft mit den beiden Malern Herbert Kitzel und vor allem Hermann Bachmann, die in Vorbereitung der Ausstellung von Halle herübergekommen waren. Von nun an ging Reichelt in ihren Ateliers ein und aus und stellte sich ihrer Kritik. Hier traf er auch Gerhard Hoehme und Willi Sitte. Eine lebendige, experimentier- ­und diskutierfreudige Zeit nach dem Zusammenbruch der verordneten NS­-Gleichschaltung, auch in der Kunst. Noch in Halle heiratete Reichelt ein zweites Mal: Fe Grimm, Tänzerin und Wigman-Schülerin.

Doch das kulturelle Leben in der DDR geriet immer rigider und strikter unter das autoritär-ideologische Diktat der Einheitspartei. 1957 ging Reichelt mit Frau und Sohn in den Westen. Er konnte als Oberarzt im Allgemeinen Krankenhaus in Celle in der Röntgen- und Strahlentherapieabteilung arbeiten und wurde einige Jahre später deren leitender Arzt. Die beiden jüngsten Kinder wurden in Celle geboren.

Nulla dies sine linea. Reichelt hielt sich streng daran und produzierte in den folgenden Jahren eine Fülle von Zeichnungen, Aquarellen, Öl- und Acrylbildern sowie Graphiken. Er arbeitete seriell, variierte, modifizierte, blieb lange an einem Thema und versuchte sich in den unterschiedlichsten Techniken. Ein Beispiel dafür sind seine Röntgenfrauen, die er in den Jahren 1966/67 malte, aquarellierte und radierte.«Jedes Bild ist eine Niederlage«, dieses Credo Bachmanns war sein ständiger Stachel und Antrieb. Und ­Becketts: »Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.«

Tom bei Kitzel
Reichelt im Atelier Kitzel 1964

Gleichzeitig scheute er auch lange Wege nicht, um Ausstellungen zu besuchen. Fast unersättlich war seine Lust, Bilder zu sehen. Er trat dem Celler BBK und dem Kunstverein bei, dessen Gründungsmitglied Fe Reichelt war. Es bildete sich bald ein Kreis Interessierter, der zusammenkam, um sich neu Entstandenes zu zeigen, gemeinsam zu lesen und über gesehene Ausstellungen zu diskutieren. Die Tagebücher dieser Zeit enthalten nur wenig Persönliches, fast immer geht es um Kunstfragen. Und so oft er konnte, war er in Berlin bei Hermann Bachmann. Der half ihm auch, erste Verbindungen zu Galerien herzustellen. Oft beteiligte er sich an jurierten Ausstellungen des Kunstvereins Hannover und des Badischen Kunstvereins Karlsruhe. 1962 gab es einen kleinen »Kunstskandal« in Celle mit bitterbösen Anwürfen gegen »die Herren Gegenstandslosen« und die »Verwilderung« ihrer Bilder, als er zusammen mit seinem Freund Karl-Heinz Lingner in der Gotischen Halle ausgestellt hatte. Die Liste der Galerien, in denen er in diesen Jahren ausstellte, ist lang: Galerien in Hamburg, Braunschweig, Berlin, Frankfurt, Gütersloh, Göttingen, Hannover und anderswo. In dieser Zeit, um 1963, begann er, seine Bilder mit »Tom Reichelt« zu signieren.

Friederun imAtelier
Fe Reichelt in "Tanz der Bilder" 1964

Auch das Filmen interessierte ihn. Zusammen mit seiner zweiten Frau Fe Reichelt entstanden kleine experimentelle Filme voller Originalität und Witz. Einige wurden in Hamburg auf der »hamburger filmschau« und in Oberhausen gezeigt. Mit Freunden wurden »Trailer« für imaginierte Filme voller Laster und Verbrechen gedreht.

Tom Fotographie
um 1975

In den siebziger Jahren verlagerte sich Tom Reichelts Interesse auf die Fotografie. Eine Zeitlang ­verunsichert durch die Behauptung des Zeitgeists, die Kunst sei wenig »gesellschaftsrelevant«, gezwungen durch zunehmende berufliche Arbeitsbelastung zu zeitökonomischeren Kunsttechniken und fasziniert von den Möglichkeiten der Fotografie vertiefte er sich nun mit der ihm eigenen Ausschließlichkeit in das neu entdeckte Medium. Er richtete sich eine eigene Dunkelkammer ein und verbrachte nun die Abende und Wochenenden damit, Schwarzweiß- und Farbreproduktionen herzustellen. Bald gelang es ihm, seine Arbeiten auch auf renommierten Ausstellungen zu zeigen: mehrmals auf der Internationalen Plöner Fotoausstellung, bei den 7. Hamburger Fototagen 1975 und in mehreren Fotogalerien, z.B. der Fotogalerie »Z« in Hannover.

Ein kurzes, aber intensives Intermezzo galt dem Computer, von dessen vielfältigen Möglichkeiten er fasziniert war. 1982 ließ sich Reichelt in Hamburg einen Computer »bauen«, lernte die Computersprache »Basic« und fing an, medizinische Programme zu schreiben, die so gut waren, dass eine renommierte Beratungsgesellschaft Anfang 1984 sechs seiner Programme kaufte; in den nächsten Monaten wurden weitere nachgefordert.

Ende der achtziger Jahre entdeckte Tom Reichelt ein neues Experimentierfeld: das Computerbild. Er arbeitete sich in Malprogramme ein und machte, zunächst fasziniert, dann zunehmend skeptischer, seine Erfahrungen mit der schier unbegrenzten Zahl der Bildmöglichkeiten bis zur inflatio­nären Beliebigkeit. Seit 1987 war er Mitglied der Gesellschaft für elektronische Kunst und verfolgte die weitere Entwicklung mit großem Interesse.

Atelier
Reichelt im Atelier 2003

Nach seiner Pensionierung 1984 kehrte Tom Reichelt zur Malerei zurück. Er richtete sich zunächst in einer Einzimmerwohnung, dann in einer stillgelegten Bäckerei ein geräumiges Atelier ein und fing noch einmal an. Wieder mit der ihm eigenen Ausschließlichkeit. Meist ein paar Stunden am Vormittag, am Nachmittag noch einmal. Er arbeitete nicht gern bei Kunstlicht, wollte das Tageslicht nutzen. Oft nahm er Bilder, die er aus dem Atelier nach Hause gebracht hatte, nach ein paar Tagen wieder zurück ins Atelier. Er hatte an dem Bild, während er Musik hörte oder die Gäste sich unterhielten, »weitergemalt« und seine Schwächen entdeckt. Viele Bilder sind mehrmals übermalt worden, und es dauerte lange, bis sie für ihn »fertig« waren. Aus dem Grunde bevorzugte er zunehmend das Malen mit Acryl, das dieser Neigung entgegenkam.

Neben dem Malen blieb die nicht nachlassende Lust, Bilder zu sehen. Zusammen mit seiner dritten Frau Wiltrud Stoffregen unternahm er Reisen zu den Ikonen der Kunstgeschichte. Die Tagebücher der achtziger und auch der neunziger Jahre berichten immer wieder von Museumsbesuchen, listen akribisch das Gesehene auf und skizzieren einzelne Bilder. »Ihr habt ja noch gar nichts gesehen« rief eine New Yorker Freundin entsetzt aus, als sie die Reichelts nach 14 Tagen New York traf und sich von ihnen berichten ließ. Sie kannten nur die Museen.

Mit immer weniger Menschen konnte er über das, was ihn beschäftigte, reden. Über seine Bilder schon gar nicht. Das Schweigen nahm er hin, freute sich über jede Ausnahme und akzeptierte, ganz unsentimental, seine zunehmende künstlerische Isolation. Er hatte keine Lust mehr, wegen möglicher Ausstellungen zu antichambrieren, sich anzupreisen und um Zustimmung zu werben. Es fehlte ihm das Talent, sich zu inszenieren; oft wirkte er gehemmt. Unbeirrt machte er sich in Zurückgezogenheit an die Arbeit.

Wie hat er sich erlebt? Er war klug und informiert genug zu sehen und zu wissen, dass der »mainstream« der Kunst an ihm vorbeilief, dass er nur in einer kleinen unscheinbaren Nische wirkte. Gewissheiten waren ihm verdächtig, Wahrheitsbehauptungen fand er absurd. Lebenslang las er Morgenstern, noch in seinen letzten Jahren lernte er seine Gedichte auswendig, die er wegen ihrer grotesken Mischung aus Wortspielerei, Un-Sinn, kindlichem Humor und ihrer philosophischen Tiefe liebte. Das Butterbrotpapier, das aus Angst Geist bekam und dennoch von einem wilden Specht aufgefressen wurde, war ihm sehr nah. Nah war ihm auch die Figur des Ikarus, an der ihn nicht der Flug zur Sonne, sondern der Absturz interessierte. In seinen Anfangszeiten, in den sechziger Jahren, waren es »Gefallener«, »Gestürzter« , später fand er dafür die Ikarusformel. Die Höllenstürze auf Altar­bildern hatten es ihm angetan, der steile Sturz nach unten. Das letzte Bild, das wenige Tage vor seinem eigenen Fall fertig wurde, ist Ikarus nach Bruegel: ein ganz unpathetischer Sturz, von niemandem wahrgenommen. »..wie alles sich beinah gelassen vom Unheil abkehrt ...« (W. H. Auden: aus »Musee des Beaux Arts« übersetzt von K. H. Hansen).

Steigerung der Lebensintensität durch den Blick auf Tod und Verwesung finden sich schon gut dreißig Jahre früher in der Bildserie Röntgenfrauen. Es ist ein Doppelblick: der zärtlich-erotische auf die Schönheit der Außenseite und der mitfühlende, vielleicht auch angsterfüllte Röntgenblick in das faszinierende Dunkle dahinter, das er als Arzt so gut kannte. Liebe als »Sympathie mit dem Orga­nischen«, als »das rührend wollüstige Umfangen des zur Verwesung Bestimmten«, so hatte es Thomas Mann im Zauberberg beschrieben. Reichelt kannte und liebte diese Sätze.

»Es ist seltsam, es gerät mir alles immer viel farbiger als beabsichtigt.« Staunende Bemerkungen wie diese finden sich hin und wieder in den Tagebüchern. Woher kommt die Farbintensität, die Leuchtkraft seiner Farben, gerade auch auf den Ikarus-Bildern? Das hatte, möglicherweise, in zweifacher Hinsicht, mit seiner langen Beschäftigung mit der ZEN-Philosophie zu tun, in der er Beruhigung und Gelassenheit suchte. Verstörungen konnten besänftigt werden, wenn es gelang, »kosmisch« zu fühlen. Sterben und Verwesung waren kein Drama, kein pathetischer Vorgang mehr, sondern das Natürliche, Unspektakuläre, »Lebensgesetzliche«. Ikarus ist nichts als eine Spur, die verlöscht, ein Zeichen, das verschwindet.

Und: Das Malen war ihm ein Zustand intensiver, doch müheloser Konzentration, von erhöhter und erweiterter Aufmerksamkeit, von »Geistesgegenwärtigkeit«, ein Begriff, den er sehr liebte. Der Malvorgang, der Malstrich als »Hier und Jetzt«, als Augenblick und Ewigkeit in eins, das faszinierte ihn. Malen und Meditieren waren sehr nah beieinander, dazu gehörte »Heiterkeit« als Einverständnis mit den Lebensgesetzlichkeiten. Wann immer er malte, hörte er Jazz, seine Droge, sein Rauschmittel zur Bewusstseinsintensivierung.

»Ich kann einen Unterschied zwischen dem Gefühl, das ich vom Leben habe, und der Art und Weise, wie ich dieses Gefühl malerisch übersetze, nicht machen«, hatte Matisse gesagt. Reichelt liebte die lebenssatte, luxuriöse, Schönheit schaffende Farbigkeit seiner Bilder und bewunderte ihre spannungsvolle Flächigkeit.

Malen war ihm sicher auch eine Rückzugsmöglichkeit in Wunsch-Innenräume. Fast wie Landschaft, diese Bildgruppe gewann eine immer größere Bedeutung. Zu keiner Zeit malte er Landschaftsbilder im herkömmlichen Sinn, auch wenn Titel wie »West-Samoa« oder »Friedhof bei Collingwood« dies nahelegen könnten. Es waren »magische Welten, die ich sonst nirgends entdecken kann«, imaginierte Landschaften mit einem versteckten Geheimnis, das nur er kannte, Wunsch- und Sehnsuchtsbezirke, in die er sich malend zurückzog. Bilder wie »Bergstadt« oder Bildserien wie »Herzgewächse« gehören in diesen Zusammenhang: phantasierte Farbbildwelten, die durch ihre freien Formen zugleich Himmel und Vegetation, Körperlandschaft und uralte mythische Erinnerungen assoziieren.

Nach einer Hirnblutung am 19. Januar 2004 starb Tom Reichelt am 25. März desselben Jahres.

 

Wiltrud Stoffregen-Reichelt